Podiumsdiskussion: Wege aus der Dauerkrise

mit Michael Brie (Wissenschaftlicher Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung), Ines Schwerdtner (Publizistin bei Jacobin), Ingar Solty (Rosa-Luxemburg-Stiftung); Moderation: Maren Kaminski

Michael Brie

 

Ines Schwerdtner
Ingar Solty
Maren Kaminski

Inputs und Podiumsdiskussion

(Samstag, 7.10.2023, 10.30 – 12.30 Uhr)

Ines Schwerdtner und Michael Brie ergänzten den vorangegangenen Vortrag von Ingar Solty mit Kurzreferaten, um daran anschließend mit Ingar Solty in die von Maren Kaminski moderierte Podiums- und Plenumsdiskussion einzutreten.

Ines Schwerdtner:

Der Vortrag schloss an das Moment der Krise der Demokratie und der politischen Repräsentation an. Ohne eine Lösung der Repräsentationskrise seien auch die anderen Krisendimensionen nicht zu lösen. Zur Charakterisierung der aktuellen Situation griff Ines Schwerdtner den Begriff der Hyperpolitik (Jäger 2023) auf, der ein Ende des technokratischen Regierungsverständnisses und der Phase der Postpolitik konstatiert und eine „hohe Politisierung ohne politische Folgen“ (gehypte Diskurse) beschreibt. Die Gegenwart sei gekennzeichnet durch eine krasse Individualisierung bei abnehmender Organisation und wachsender politischer Polarisierung. Größter „politischer Gegner“ sei die Resignation. Zu beobachten sei eine „Great Moving-Right-Show“, bei der von der Klassenfrage abgelenkt werde auf Kulturfragen wie Migration, LSBTIQ* u.ä.

Die Linke habe in der Vergangenheit vor allem diskursive Macht aufgebaut, welche aber nicht mit politischer Macht einhergehe. Der libertäre Autoritarismus setze aber einen schwierigen Rahmen für die linke wissenschaftsbasierte Argumentation. Das Hauptproblem bestehe also in der Organisierung und dem Aufbau politischer Macht. Als Anknüpfungspunkte hierfür benannte sie bestimmte Problemfelder, die strategisch genutzt werden könnten, wenn der Problemdruck groß genug sei. Ein großes Mobilisierungspotential habe sich z.B. im Berliner Volksentscheid zum Wohnen, in der Klimafrage etc. gezeigt. Außerdem evozierten die Bedingungen der neuen Blockkonfrontation einen Staatsinterventionismus, dessen „industriepolitischer Schwung“ für die Ausweitung von Mitbestimmung und demokratischer Kontrolle der Produktion genutzt werden sollte. Allerdings seien diese Felder nicht systematisch verbunden. Daher brauche es ein strategisches Zentrum, das eine integrierte Auffassung der unterschiedlichen Problemfelder entwickeln könne.

Michael Brie:

Michael Brie konstatierte, dass die Linke in vielen Ländern nicht mehr als Machtfaktor vorhanden sei. Die zahlreichen Krisen der Vergangenheit seien nicht als Chance genutzt worden, um politisch in die Offensive zu kommen.

  1. Die lohnarbeitende Klasse sei politisch heimatlos geworden, da sie keine politische Repräsentation mehr fände. Nun orientiere sie sich entweder nach Rechts oder mäandere suchend umher.
  2. Der Sieg des Neoliberalismus über die alte Linke habe die neue Rechte erst möglich gemacht. Mit der Einverleibung des emanzipatorischen Erbes von 1968 habe der Kapitalismus den umfassenden Umbau zur Marktgesellschaft mit dem Leitbild des Einzelnen als Unternehmer und individualistischem Glücksversprechen durchgesetzt. Das Gemeinschaftliche, der Sozialstaat, das Nationale seien dem als vereinheitlichtes Feindbild des Autoristarismus entgegengesetzt worden. Die neue Rechte basiere auf dem gegenhegemonialen Projekt des Festungskapitalismus mit einem Schutzversprechen, bei dem die Solidarität der Arbeitenden durch den völkischen Zusammenhalt ersetzt werde.
  3. Die Linke habe sich in der Vergangenheit zu stark auf identitätspolitische Fragen und eine libertäre Kritik der herrschenden Verhältnisse konzentriert und sich damit in der Kritik des Liberalismus immer stärker auf dessen eigene Grundlagen gestützt. Gramsci sei es hingegen darum gegangen, aus dieser Kritik heraus eine neue geistige Grundlage zu schaffen. Hierin bestehe die eigentliche Aufgabe der Linken.
  4. Die Partei DIE LINKE habe in den drei großen Krisen des letzten Jahrzehnts versagt. Es gebe einen schreienden Widerspruch zwischen dem Potential für linke politische Kräfte in der Gesellschaft und dem, was die Partei DIE LINKE erreiche. Sie vertrete zwar vielfach richtige, in einigen Fragen aber falsche oder völlig unklare Positionen, insbesondere dort, wo es für die „ganz normalen Bürgerinnen und Bürger um Alles“ gehe.
  5. Eine Erneuerung sei nur möglich über eine sozialistische Klassenpolitik, die von den Interessen der lohnarbeitenden Klasse aus entwickelt werde. Das bedeute, die Fragen der Ökologie, des Friedens, der globalen Solidarität und Entwicklung, von neuen Geschlechterverhältnissen und der Überwindung des Rassismus sowie des Kampfes gegen den Faschismus von den Lohnabhängigen her und mit ihnen gemeinsam zu stellen.
  6. Die Linke müsse dem Volke dienen. Eine Schlüsselrolle in der Hegemoniefrage komme der akademisierten Mittelschicht zu. Ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis sei für einen machtpolitischen Durchbruch unerlässlich.

Diskussion:

Die Diskussion, an der sich das Plenum intensiv beteiligt; setzte an der Frage an, welche Veränderungen die „Agenda 2010“ ausgelöst habe. Dazu stellte Michael Brie fest, dass das eigentliche Versagen der Linken 1990 festzumachen sei. Es sei nicht gelungen, die welthistorisch offene Situation produktiv zu nutzen – mit den Folgen, die wir heute sähen. Ingar Solty ergänzte, dass dieser Zeitabschnitt die letzte Stufe des Niedergangs der Linken markiere. Zuvor habe der Neoliberalismus den Sieg über die Gewerkschaftsbewegung im Westen und über die nationalen Befreiungsbewegungen im globalen Süden errungen. Heute erlebten wir die strukturelle Konvergenz der zentralen Problemstellungen. Die Linke müsse diese in eine reale Konvergenz überführen.

Die Agendapolitik der Schröder-Regierung sei ökonomisch tiefer gegangen als der Thatcherismus und habe sich als politisches Trauma ausgewirkt, merkte Ines Schwerdtner an. Wichtig sei es, wieder eine organische Anbindung an die die Gewerkschaften zu erreichen. Tarifpolitik reiche nicht, die Gewerkschaften müssten gesellschaftspolitisch aktiv werden.

Auf die Publikumsfrage, was mit „strategischem Zentrum“ gemeint sei, erklärte Ines Schwerdtner, dass dieser Gedanke auf das Konzept der „Mosaik-Linken“ (Urban) zurückgehe, das lange den Diskurs in der Partei geprägt habe. Aktuell sei ein Zerfallsprozess zu beobachten, der an den inhaltlichen Polen erfolge. Zentraler Akteur könne aber nur eine Partei sein, da nur sie in der Lage sei, die Kontroversen auf eine andere Ebene zu heben. Als Beispiel nannte sie die KPÖ, weil diese an den Belangen der Bevölkerung und nicht an einzelne gesellschaftliche Gruppen anknüpfe. Sie wirke als Antreiberin einer Bündnispolitik. Eine solche „Anrufung der Klasse“ sei auch die Gründung der Partei Die Linke 2005 gewesen; die Chance, die Klasse organisch zu entwickeln, sei aber vertan worden, stellte Michael Brie fest.

Auch die Bedeutung der erwarteten (inzwischen vollzogenen) Abspaltung eines Bündnisses Sarah Wagenknecht wird im Plenum nachgefragt. Für Michael Brie wird damit gespalten, was eigentlich zusammengehöre. Er erwartet zunächst eine Verhärtung der Positionen und hält eine inhaltliche Koalition absehbar für nicht wahrscheinlich.

Zu der Frage, wie Mitte-Unten-Bündnisse zu erreichen wären, stellte Ingar Solty zunächst fest, dass der Niedergang der Linken direkt mit dem Aufstieg der Rechten in Zusammenhang stehe. In Großbritannien und in den USA sei der Abstieg der Mittelschicht bereits Realität, daher komme es dort zu Mitte-Unten-Bündnissen. In Deutschland sei das noch nicht in diesem Ausmaß ausgeprägt, daher habe man es hier eher mit zu Mitte-Oben-Bündnissen zu tun.

Das Hauptprojekt, so Ingar Solty, müsse sein, die Linke als Partei zu retten. Dann müsse die Strategie darauf zielen, Gelegenheiten zu nutzen, um in der politischen Rhetorik Alternativpositionen zu setzen. Keine der großen Fragen könne nachhaltig im Kapitalismus bearbeitet werden. Die Linke müsse Ursachen und Folgen klar benennen und politische Vorschläge machen.