Am 20./21. November 2015 fanden unter dem Titel „Kapital und Klassen im 21. Jahrhundert. Soziale Ungleichheit heute – Über Piketty hinaus denken“ im Haus der Kulturen e.V. die 9. Braunschweiger Gramsci-Tage statt. Vorträge wurden kombiniert mit Workshops, einer Kulturveranstaltung und einer abschließenden Podiumsdiskussion.
Die Vorträge
Eine Aktualisierung klassentheoretischer Positionen sei zwingend notwendig, um die im Finanzmarktkapitalismus entstandenen sozialen Ungleichheiten angemessen begreifen und um der gegenwärtigen Klassenpolitik von oben eine auf soziale Gerechtigkeit zielende Politik von unten entgegensetzen zu können. Allerdings bestehe eine zentrale Herausforderung einer erneuerten Klassentheorie darin, sie gegen eine zu beobachtende Okkupation des Klassenbegriffs von rechts abzuriegeln und gegen die Naturalisierung sozialer Verhältnisse sperrig zu machen, um soziale Ungleichheit und Klassenherrschaft als historisch vergänglich und demokratisch überwindbar kenntlich werden zu lassen. So lautet das Fazit des Vortrags von Prof. Dr. Klaus Dörre, der die neue soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Klassentheorie in den Blick nahm.
Eingeleitet hatte die Tagung Dr. Bernd Röttger mit einer kritischen Würdigung der Untersuchungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty, der mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert eine neue Debatte über soziale Ungleichheit auslöste. Piketty könne zwar historisch anschaulich die Zuspitzung sozialer Ungleichheit zwischen Lohnarbeit und Kapital im 19. Jahrhundert, die durch Klassenkompromisse ermöglichte Partizipation der Lohnarbeitenden am gesellschaftlichen Reichtum in der sog. Nachkriegsordnung und das erneute Auseinanderklaffen der Einkommensschere seit den 1970er Jahren zeigen. Seine Forderung aber nach einer stärkeren Besteuerung des Reichtums, nach einer Umverteilung von oben nach unten, um die entstehende Legitimationskrise der bürgerlichen Gesellschaft zu begegnen, bleibe normativer Appell. Sie „verstrulle“ vor allem deshalb ins Wirkungslose, weil in Pikettys Analyse eine „historisch-materialistische Prüfsonde“ (Peter Rühmkorf) fehle, mit der deutlich werden könne, dass materielle Ungleichheit immer auch mit ungleicher Verteilung von gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und politischer Macht einhergehe. Diese Verschränkung von sozialer und politischer Ungleichheit bezeichnete Röttger als „herrschaftliche Orchestrierung sozialer Ungleichheit“. Mit ihr gelinge es den Herrschenden – einer „Phalanx“ aus Exportkapital, Gläubigern, Geldbesitzern und Vertretern der Austeritätspolitik – unter der Nutzung der aus den hierarchischen Strukturen des Weltmarkts resultierenden Handlungsrestriktionen bislang (noch?), sich der Durchsetzung historischer Alternativen erfolgreich zu widersetzen. Eine solche Alternative werde nur möglich, wenn sich die verstreuten subalternen Klassen zu einem handlungsfähigen Subjekt konstituieren, um vorherrschende Strukturen tatsächlich verändern zu können.
Hier setzte Dörre in seinem Vortrag an. Er konstatierte zunächst den Niedergang der klassentheoretischen Diskussion in der deutschen Soziologie. Spätestens seit der von Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft (1986) formulierten Individualisierungsthese habe man davon Abschied genommen, Klassen als für die Menschen individuell erfahrbar und somit handlungsleitend zu verstehen. Das Konzept der sozialen Schichten, auf das die soziologische Ungleichheitsforschung zunehmend ausgewichen sei, sei jedoch vor allem auf dem Hintergrund noch funktionierender Klassenkompromisse entwickelt worden und habe nicht nur einen ständigen Wohlstandszuwachs suggeriert, sondern auch eine Durchlässigkeit verfestigter Sozialstrukturen nach oben („Vom Tellerwäscher zum Millionär“). – Die Empirie zeige aber, dass seit der Restrukturierung des Kapitalismus in den 1970er Jahren eine Aufwärtsmobilität blockiert sei und stattdessen eine Abwärtsmobilität dominiere. Spiegelbildlich sei eine zunehmende soziale Schließung der oberen gesellschaftlichen Gruppen zu beobachten: die Herausbildung einer Klasse mit privilegiertem Zugang zur Finanzwirtschaft, die den Finanzmarktkapitalismus als eigenständige Sphäre mit spezifischen Institutionen, Berufen und Interessenstrukturen etablierte. Dieses relativ abgekoppelte System generiere inzwischen Ansprüche, die die gesamte Gesellschaft bedienen müsse. Dörre entwickelte einen an Marx anknüpfenden relationalen Klassenbegriff. In seinem Zentrum stehen sozioökonomische Wirkmechanismen zwischen den sozialen Klassen (Ausbeutung auf der einen, Herrschaft auf der anderen Seite), auf die soziale Ungleichheit ursächlich zurückzuführen sei. Anknüpfend an Max Weber und Pierre Bourdieu aber müsse das Konzept der sozialen Klassen neben den objektiven Stellungen der Klassen im Produktionsprozess und zu den Produktionsmitteln heute auch soziale Beziehungen und Lebensweisen umfassen. Eine Klasse entfalte sich dann zur sozialen Wirklichkeit, wenn sie nicht nur eine Strukturbeschreibung sei („Klasse an sich“ (Marx), die objektiv aus der Stellung im Produktionsprozess zu ermitteln ist), sondern sich die Subjekte als Angehörige dieser Klasse sozial erführen (Konstitution zur „Klasse für sich“ (Marx), also handlungsfähig werden). „Klasse handelt nicht.“ Es handelten die Menschen, die sich einer Klasse zugehörig fühlen. Auf der Grundlage eigener Untersuchungen zeigte Dörre, dass sich in der traditionellen Arbeiterklasse, den Stammbeschäftigten in den produktiven Betrieben, heute ein „Überlebenshabitus“ herausgebildet habe, der zu „exklusiver Solidarität“ tendiere: eine hohe Identifikation mit dem Betrieb paare sich zwar mit einem ausgeprägten Oben-Unten-Bewusstsein, das auch betriebliche Auseinandersetzungen zulasse. Dieses neue Arbeiterbewusstsein aber grenze sich gegen ein „Anderes“ oder „Äußeres“ des Betriebes rigoros ab (Leiharbeitende, Beschäftigte aus konkurrierenden Betrieben). Damit sei es dem Kapital letztlich gelungen, Teile der Arbeiterklasse in seinen hegemonialen Block einzubinden. Dörre benennt abschließend vier Kernpunkte eines notwendigen Umbaus, die ein neues Klassenprojekt von unten konstituieren könnten: demokratische Umverteilung, neue Eigentumsformen, die nicht auf Staats- und Privateigentum beruhen (Formen kollektiven Selbsteigentums), strategische Kontrolle von Energie- und Finanzwirtschaft, Abkehr von unhaltbaren Wachstumszwängen.
Die Kulturveranstaltung: Szenisch-musikalische Lesung Polnische Perlen
Die produktive Arbeit ist abhängig von reproduktiver Arbeit, d.h. von Dienstleistungen, die die Ware Arbeitskraft generieren/reproduzieren. Die Sorgearbeit („Care“) steigt in dem Maße, wie die „freie Menschenverwüstung“ (Marx) zunimmt. Im Gegenwartskapitalismus steht jedoch der gestiegenen Bedeutung der „Care-Ökonomie“ eine tendenzielle Abwertung der dort arbeitenden Menschen entgegen. Gerade im Pflegebereich zeigt sich deutlich, dass dieser Widerspruch vor allem gender- und migrationspolitische Fragen aufwirft. In Deutschland arbeiteten nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts 2013 in Deutschland rund 3 Millionen Personen in Pflegeberufen, darunter 373 000 mit eigener Migrationserfahrung. Die größte Migrantengruppe kommt aus Polen, 93% davon sind Frauen, teilweise akademisch qualifiziert, die in prekärer Beschäftigung als Haushaltshilfen oder Pflegekräfte in Deutschland leben. Sie verschieben damit die Versorgungslücke von Deutschland in ihre eigenen Familien im Heimatland. – Diesen Menschen gab die szenisch-musikalische Lesung von Fanny Staffa und David Kosel eine Sprache. Die Texte beruhten auf Originalaussagen polnischer ArbeitsmigrantInnen und waren von der werkgruppe2 aus Originalinterviews erarbeitet worden. Sie schilderten eindrücklich den Alltag von Pflegekräften, die oft ohne arbeitsrechtlichen Schutz sieben Tage die Woche im Haushalt ihrer Arbeitgeber leben und rund um die Uhr verfügbar sind.
Die Workshops
Orhan Sat: Einführung in die Theorie Antonio Gramscis
Im Zentrum des Seminars stand das Konzept der Hegemonie bei Antonio Gramsci. Gramsci entwickelte seinen zentralen Begriff vor allem als Kritik am Ökonomismus der II. Internationale. Er diente ihm sowohl zur Erklärung der Stabilität bürgerlicher Herrschaft als auch zur Begründung neuer Anforderungen an eine revolutionäre Umgestaltung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Politik, Ideologie und Kultur fungierten für ihn nicht als von der Ökonomie ableitbare Phänomene, sondern als eigenständig wirksame Sphären, als „Terrain, auf dem die Menschen sich bewegen, Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben, kämpfen usw.“. Hegemonie sah er als eine widersprüchliche Einheit aus Konsens und Zwang, die immer wieder dynamisch verändert werden muss. Bürgerliche Hegemonie, will sie erfolgreich ausgeübt werden, setzt aufgrund der antagonistischen Klassenverhältnisse Zugeständnisse der herrschenden Klassen an die untergeordneten Gruppierungen voraus, ohne dass dabei ihre Kerninteressen (am Privatbesitz an und der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel) berührt werden. Die herrschenden Klassen in den entwickelten Staaten üben ihre Macht nicht nur über die repressiven Staatsapparate (Militär, Polizei) aus, sondern auch über die Institutionen der sog. Zivilgesellschaft (Schule, Medien, Kirchen, Vereine etc.). Der revolutionäre Kampf erfordert es daher, den Konflikt auf allen Ebenen zu führen. In diesem Kampf verortete Gramsci auch seine Philosophie der Praxis: „Sie ist der Ausdruck [der] subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen, und die (unmöglichen) Betrügereien der Oberklasse und erst recht ihrer selbst zu vermeiden.“ – Organischen Intellektuelle, deren grundsätzliche Aufgabe Gramsci darin sah, „die gesellschaftliche Hegemonie einer Gruppe und ihre staatliche Herrschaft zu organisieren“, seien auch für die Subalternen notwendig: als pädagogische Vermittler kritischen Denkens und als Repräsentanten dieses Denkens in der Öffentlichkeit.
Hans-Günter Thien: Geschichte und Aktualität der Klassentheorie(n)
Thema des Seminars bildete die mit den Theorien der Arbeiterbewegung unentwirrbar verwobene Vorstellung, dass die Geschichte auf ihrer Seite stehe. Hans-Günter Thien skizzierte einige der Grundirrtümer der sozialistisch/kommunistischen Bewegung: dass jede ökonomische Krise des Kapitalismus eine Existenzkrise der Produktionsweise bewirke und eine proletarische, revolutionäre Bewegung evoziere; dass jeder Widerstand der Arbeitenden ein revolutionärer Widerstand sei (in der Streikbewegung Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre etwa); dass jeder erkämpfte historische Fortschritt (die russische Revolution 1917, die Sozial- und Wohlfahrtsstaaten in den entwickelten Kapitalismen) unumkehrbar sei; dass auch zivilgesellschaftliche Fortschritte, wie sie die Kommunistische Partei Italiens in den 1970er Jahren verbuchen konnte, vor der „konzentrierten gesellschaftlichen Macht“ des Kapitals (Marx) gefeit sei. Die Tatsachen zeigten, dass ökonomische Krisen immer auch zur Restauration bürgerlicher Herrschaft genutzt werden konnten, dass betriebliche Agitationen, wie in den 1970er Jahren, die Arbeiterklasse nicht erreichten, dass die historischen Fortschritte an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde gingen (sozialistisches Weltsystem) oder neoliberal umgewandelt werden konnten, und dass selbst die starke Kommunistische Partei Italiens keine konzeptiven Antworten auf den sich erneuernden Kapitalismus fand und sich schließlich auflöste. – Über die historische Bedeutung dieser Entwicklungen wurde genauso kontrovers gestritten wie über die neue Rolle des Klassenkonzepts für die Formulierung gesellschaftlicher Alternativen.
Christina Kaindl: Prekarität und Handlungsfähigkeit
Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage der „kooperativen Integration“ der in prekären Verhältnissen lebenden Menschen. Christina Kaindl führte aus, dass neoliberale und Agenda-Politik in der BRD einen ausgedehnten Niedriglohnsektor entstehen ließen. Weder die geschwächten Gewerkschaften noch die traditionell verbündete Sozialdemokratie verkörperten heute noch gesellschaftliche Alternativen. Diese europaweit zu beobachtende Repräsentationslücke führe in anderen europäischen Ländern dazu, dass rechte Parteien und Organisationen Zulauf erhalten; in Deutschland dagegen sei eher ein Rückzug auf den sozialen Engraum zu konstatieren (z.B. ist die Wahlbeteiligung bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen auf ca. 40% zurückgegangen, während sie in den oberen Gesellschaftsschichten ca. 80% beträgt). Mit Gramsci wäre von einer Krise der Repräsentation zu sprechen. Die unteren gesellschaftlichen Gruppen hätten sich von ihren angestammten Parteien gelöst, weil diese nicht mehr ihre Interessen vertreten. Gleichzeitig würden ihre Interessen aber auch nicht mehr vom „Block an der Macht“ aufgenommen. Zugeständnisse wie der Mindestlohn erfolgten nur selektiv. Sei der Kontakt zu den Herrschenden verloren gegangen, werde deren Herrschaft nur noch als eine ihnen fremde Macht, als Zwangsherrschaft wahrgenommen. – Wie entsteht aber die Fähigkeit zur Gegenhegemonie? Wie wird die politische Artikulation von Menschen in prekären Verhältnissen möglich? Kaindl sieht darin ein Problem sowohl der Strategie wie der Organisation. „Organische Intellektuelle“ (Gramsci) müssten sich in der Klasse selbst entwickeln. Die Funktion linker Parteien und der Gewerkschaften bestünde darin, die strategische Seite dieser Kämpfe mit zu entwickeln und die Kämpfe zu bündeln. Eine Revision – auch der Politik der Partei DIE LINKE – ist hierfür notwendig. – In der anschließenden Diskussion wurde dafür plädiert, für Menschen in prekären Verhältnissen Gelegenheiten zum Zusammentreffen zu schaffen, um ihre Vereinzelung aufzuheben, z.B. durch kommunale Arbeitsangebote. Problematisiert wurde gleichzeitig, dass damit zwar in der Regel eine Verbesserung der sozialen Versorgung erreicht werde, erfahrungsgemäß jedoch keine politische Mobilisierung erfolge. Außerdem spiele diese Entlastung dem neoliberalen Staat in die Hände. Von der „Mosaiklinken“ getragene „solidarische Bürgerbüros“ könnten Beratung bieten, ebenso wie die Gewerkschaften. Zwiespältig wurde auch die Forderung nach direkter Demokratie betrachtet. Ohne ein entwickeltes demokratisches Bewusstsein wäre sie ein Einfallstor für rechte und reaktionäre Auffassungen. Außerdem sei damit die Organisationsfrage im Kern berührt. Die AfD beispielsweise fordere direkte Demokratie, um vermittelnde Institutionen der Interessenartikulation obsolet zu machen. Politisches Bewusstsein hingegen entstehe gerade aus der Selbsttätigkeit heraus.
Podiumsdiskussion: Ungleichheit und politische Handlungsfähigkeit. Kontroverse zu Gewerkschaftspolitik, neuen Arbeitskonflikten und praktischer Kapitalismuskritik
Am Ende der Veranstaltung stand ein Podiumsgespräch über Ungleichheit und kollektive Handlungsfähigkeit. Andres Klepp und Bernd Röttger diskutierten mit Katja Derer (NGG), Christina Kaindl (DIE LINKE), Catharina Schmalstieg (CWA) und Hans-Günter Thien (Universität Münster; Verlag Westfälisches Dampfboot).
Antonio Gramsci hatte in den Gefängnisheften die Krise der 1930er Jahre als „Interregnum“ bezeichnet, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“. Die Diskussion startete daher mit der Frage, ob solche Verhältnisse auch die gegenwärtige Krise des Kapitalismus charakterisieren. Stirbt das „Alte“ und lassen sich Umrisse eines (noch) blockierten „Neuen“ erkennen? Und wie reagieren die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung?
Hans-Günter Thien sieht einen Grundfehler im Denken der Arbeiterbewegung in der Vorstellung linearen Fortschritts. Die Geschichte habe gezeigt, dass sie nicht „von der Nacht ins Licht“ führe. Der Fordismus der sog. Nachkriegsordnung habe nicht nur die Verelendungsthese historisch widerlegt, sondern zugleich gezeigt, dass es den Arbeitenden dort am besten gehe, wo die Klassenkämpfe am stärksten korporatistisch eingehegt sind (etwa im tripartistische Modell der Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik). Im Postfordismus sei der Klassenkompromiss jedoch von der Kapitalseite aufgekündigt worden. Der gegenwärtige Krisenkorporatismus greife zwar Elemente dieses Kompromisses erneut auf, monopolisiere dessen Erfolge aber vornehmlich für die Stammbelegschaften. Die Frage nach struktureller Überwindung des Kapitalismus stelle sich aktuell schlicht nicht; Abwehrkämpfe stünden im Vordergrund. Christina Kaindl hob hervor, dass die Klassenfrage Element linker Politik bleiben müsse. DIE LINKE führe beispielsweise gegenwärtig eine Kampagne, die prekär Beschäftigte zusammenbringe, um soziale Missstände praktisch thematisieren und kritisieren zu können. Katja Derer zeigte am Beispiel der NGG (die drittkleinste deutsche Gewerkschaft), dass sich in ihrem Organisationsbereich die Probleme gewerkschaftlicher Interessenpolitik im Postfordismus bündeln: das Spektrum der Interessenauseinandersetzungen umfasse nicht nur prekär Beschäftigte (vornehmlich im Gastgewerbe), sondern auch Beschäftigte in Gewerbebetrieben (Handwerk) und in industriellen Großbetrieben bis hin zu Global Playern. Entsprechend reiche das Spektrum der Interessenpolitik von klassischen Tarifauseinandersetzungen über die Schaffung von Mitbestimmungsstrukturen bis hin zum Kampf um Individualrechte. Die Unterschiede der Klassen müssten genau identifiziert werden, um sie in einen größeren Kontext stellen zu können. Die Herausbildung von Klassenbewusstsein unterstütze die NGG durch Branchentagungen, um den verstreut in ihren Betrieben arbeitenden Mitgliedern einen Begegnungsraum zu schaffen. – Catharina Schmalstieg, die für die amerikanische Gewerkschaft CWA arbeitet und in den Vereinigten Staaten zur politischen Handlungsfähigkeit von prekär Beschäftigten geforscht hat, sieht die Fragmentierung und Marginalisierung der Arbeiterklasse in den USA weit fortgeschritten. Die Gewerkschaftsarbeit sei dort schon weitgehend ausgehöhlt. Probleme des Organizing, also der Gewinnung von Mitgliedern und die Aktivierung politischer Interessenartikulation – die Debatte hierum wird auch in Deutschland geführt – bestünden vor allem in der Differenzierung und Verstreutheit der Beschäftigten. Eine beispielhafte Strategie identifiziert sie in den „Corporate Campaigns“, die darauf zielen, mit Kampfmaßnahmen möglichst exponierte Branchenführer an empfindlichen Stellen der Wertschöpfungskette zu treffen. Hier machten die Menschen oft die Erfahrung, im Kollektiv wirkmächtig zu sein.
In einer zweiten Runde wurde die Frage diskutiert, welche Strategien notwendig sind, damit eine Wende von der Defensive in die Offensive gelingt. – Catharina Schmalstieg betonte die Notwendigkeit, an der Perspektive des Sozialismus festzuhalten. Abwehrkämpfe seien zwar nötig, gleichzeitig aber müsse man weiterreichende Ziele im Blick haben. Abwehrkämpfe würden derzeit stärker von den Industriegewerkschaften geführt, so Christina Kaindl. Am Beispiel des KiTa-Streiks zeige sich aber, dass die Inhalte von Arbeitskämpfen auch gesellschaftliche Debatten auslösen können. Auch an den Protesten gegen TTIP und TESA sei zu beobachten, dass eine breitere gesellschaftliche Mobilisierung möglich ist. Katja Derer zeigte auf, dass auch die NGG neben den arbeitspolitischen Auseinandersetzungen neue Wege beschreite und Themen wie die Wertschätzung von Arbeit und das Angehen gegen die „Fragmentierung in den Köpfen“ bearbeite, um mobilisierungsfähiger zu sein. Hans-Günter Thien sieht Abwehrkämpfe als ein wichtiges Erfahrungsfeld an: „Auch Abwehrkämpfe sind Kämpfe.“ Strategische Ausweitungen würden genau hieraus erwachsen.
In der Diskussion wurde kontrovers der Kampf um individuelle Arbeitnehmerrechte diskutiert. Lenken sie ab von der Entwicklung kollektiver Kämpfe, oder dienen sie der Weiterentwicklung von Rechtspositionen und damit der Sicherung der Handlungsfähigkeit von Gewerkschaften und Individuen? Einig waren sich jedoch Podium und Publikum in der Frage der Relevanz der Klassentheorie: sie sei nicht zentral nur für die Analyse der bestehenden kapitalistischen Herrschaftsordnung, sondern bleibe auch ein unverzichtbarer Bestandteil, um tragfähige Handlungsansätze identifizieren und entwickeln zu können.