Gramsci Tage 2012, Exposés

Vorträge

Richard Detje

Zwischen Ohnmachtserfahrung und Systemkritik.
Linke Politik in der 
neuen »großen Transformation«

Von Colin Crouch liegt eine höchst pessimistische Zeitdiagnose vor (»Das be­fremd­liche Überleben des Neoliberalismus«, Berlin 2011). Danach hat eine Transforma­tionsperspektive keinerlei Realitätsgehalt. Eine Debatte über »linke Transforma­tions­politik heute« ist demzufolge begründungspflichtig. Vor allem dann, wenn nach der ersten Polanyi‘schen Transformation mit einer »zweiten Transformation« weit­reichende, gleichsam grundstürzende Umwälzungen in den Blick genommen wer­den. Zum Begründungskontext gehört zweierlei: Zum einen das Aufbrechen der Wider­­sprüche in den sozio-ökonomischen Verhältnissen, zum anderen soziale Akteure, die Kritiker dieser Verhältnisse sind und sich der Crouch’schen Maxime des »muddling through« nicht anschließen. Bisherige Konzepte der Wirtschaftsdemo­kratie sind letztlich daran gescheitert, dass ihnen ein Konzept der  „Vergesell­schaf­tung von Oben“ zugrunde lag. Die Alternative wäre ein Ansatz, der von „unten“ kommt: aus der Produzentenperspektive. Ein Ansatz, der die entwickelte Subjektivi­tät ebenso aufgreift wie den Widerstand gegen die Prekarität der Arbeit. Ein Ansatz, der das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung in der Arbeit stark macht, die Aufhebung von Entfremdung, den Autonomiegewinn fördert, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit und Arbeitsteilung zurücknimmt. Ein Ansatz schließlich, der Produzentenstolz einbringen kann und damit Fachlichkeit gegen kapitalistische Rationalisierung setzt.

 

Frigga Haug

Kann die vier-in-Einem-Perspektive ein Ausgangspunkt für eine Transformation von Gesellschaft sein?

Die strategische Linie ist, wie Gramsci in seinen hegemonietheoretischen Notizen zu den Intellektuellen einschärft, „…>>eine allgemeine Auffassung vom Leben<< , eine Philosophie […], die […] eine  >>Würde<<  verleiht, die den herrschenden Ideologien als Kampfprinzip entgegengesetzt werden kann; …“(H.1 § 46, 117). Beginnend mit diesem Gramscizitat soll von daher zunächst die völlige Verkehrung der jetzigen Lage aufgezeigt werden. Das Gesamt­thema wird vom Schickal der Arbeit her ange­gan­gen, beginnend in der Gegenwart mit der Lage der Hartz4-Empfänger und den noch schwärzeren Intentionen des Peter Hartz. Dies wird fiktiv fortgeschrieben in einer negativen Dystopie als  >Schule der Arbeitslosen<.  Von diesem „verhexten“  Modell von arbeitenden und nicht arbeitenden Menschen aus geht der Blick  zurück an den Anfang von kapitalistischer Verwertung von Arbeitskraft, auch um zu ent­decken, wie Frauen darin eigentlich eingeschrieben sind, um damit die nötige femini­­­stische Kritik zu begründen. Von der Arbeit als Lohnarbeit gehe ich zur Repro­duktionsarbeit mit jüngsten Forschungen zur kooperativen  Kindererziehung. Auf dieser Grundlage wird das Transformationsprojekt – „Die vier-in-Einem-Perspek­tive“- vorgestellt.

 

Tadzio Müller  Fällt aus!!!! dafür siehe unter Röttger

Greening Gramsci? Energiewende, sozial-ökologische Transformation und Hegemonie in der BRD

Das Warum einer sozial-ökologischen Transformation im globalen Norden, weg vom fossilistischen (aber auch nicht hin zum grünen) Kapitalismus ist mittlerweile wohl hinsichtlich klar. Das Wie – ‚Energiedemokratie’, ‚Ernährungssouveränität’, jedes Politikfeld hat sein linkes Zielprogramm – ist ebenfalls mehr oder minder deutlich geworden. Die langweilige aber zentrale Frage des Wer, also die Frage, wer, warum im globalen Norden mit welchen Mitteln denn nun für diese Transformation kämpfen wird, darauf gibt es eigentlich noch keine Antwort. Ausgehend von Gramscis Überlegungen zur Notwendigkeit eines Bündnisses von ArbeiterInnen im Norden mit BäuerInnen im Süden soll hier ein ähnlicher Gedankengang nachvollzogen werden: mit wem, und auf welcher Basis, müssen sich die hierzulande schwachen linken gesellschaftlichen Kräfte verbünden, um die ersehnte Transformation in Gang zu setzen?

 

Gabriele Winker
Menschenwürde statt Profitmaximierung.
Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive

Die tagtägliche Sorge für sich sowie für Andere benötigt Zeit und ist gleichzeitig für die Verwirklichung menschlicher Lebensbedürfnisse von grundlegender Bedeutung. Das neoliberale System beschränkt mit entgrenzter und prekärer Lohnarbeit die zeitlichen und auch finanziellen Ressourcen für die existenziell wichtige Sorgearbeit. Gleichzeitig wird die soziale Absicherung schrittweise abgebaut und der Staat redu­ziert der Aufwendungen in den Bereichen der Erziehung und Bildung, Gesundheit und Pflege. So leiden insbesondere diejenigen Menschen, die Sorgeverpflichtungen für Kinder und unterstützungsbedürftige Menschen übernommen haben, unter Existenz­sorgen und Zeitdruck. Ich spreche deswegen von einer Krise sozialer Repro­duktion und verstehe darunter den zugespitzten Widerspruch zwischen Profit­maxi­mierung einerseits und Reproduktion der Arbeitskraft andererseits. Mir geht es in diesem Vortrag insbesondere um drei Fragenkomplexe:

  1. Wie ist die warenförmige Produktion von Gütern und Dienstleistungen mit der Reproduktionsarbeit sowie der Care Ökonomie verknüpft und warum ist eine umfassende Existenzsicherung unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht zu realisieren?
  2. Wie wird die derzeitige Familienpolitik als Wirtschaftspolitik betrieben und wie agieren unter diesen schwierigen Bedingungen Menschen mit Sorgeverpflichtungen?
  3. Wie könnte ein Paradigmenwechsel, eine Care Revolution aussehen und in linke politische Debatten hineingetragen werden?
    .

Bernd Röttger

Die eigentümliche Kontinuität des »Modell Deutschland«, die Krise Europas und die Notwendigkeit eines sozial-ökologischen Umbaus. Gramsci und das Problem blockierter Transformation

Todgesagt leben bekanntlich länger – das gilt nicht nur für Keith Richards, sondern auch für einen Typus exportgestützter Akkumulation, den die SPD im Bundestagswahlkampf 1976 als »Modell Deutschland« bezeichnete. In der Krisenpolitik seit 2008 schien dieses Modell wieder putzmunter: eine relative innere Stabilität, die durch eine neue tripartistische Korporation von Kapital, Gewerkschaften und Staat vor allem über Kurarbeitsregelungen erreicht wurde, paarte sich mit einer ökonomischen Krisenüberwindung, die seit dem Spätsommer 2010 vor allem wieder vom Export getragen wurde. Tatsächlich aber ist der Klassenkompromiss im »Krisenkorporatismus« (H.-J. Urban) keineswegs erneuert worden. Zudem mehren sich die Stimmen, die in den deutschen Außenhandelsüberschüssen ein wesentliches Moment der europäischen Krise sehen. Eine wirkliche Krisenüberwindung setze einen radikal sozial-ökologischen Umbau des deutschen Wachstumsmodells voraus.

Bekanntlich ist eine solche Transformation jenseits »grünen Umdekorierens« (P. Rühmkorf) bislang aber ausgeblieben. Um den Charakter der Krise und der Krisenregulation in Europa, vor allem aber um die Kräfte zu verstehen, die eine tranformatorische Politik heute blockieren und kanalisieren, setzt der Vortrag an Gramscis Krisenanalysen der 1930er Jahre an

Seminare

Seminar 1

Orhan Sat
Einführung in die gramscianische Hegemonietheorie

Im Seminar wird gemeinsam und systematisch mit der Entstehungsgeschichte und den zentralen Begriffen (Hegemonie und Gegenhegemonie, Zivilgesellschaft, Integraler Staat, organische Intellektuellen, Stellungs – und  Bewegungskrieg, Alltagsverstand u.s.w. ) dieser  Theorie auseinandergesetzt. Aber auch die Person Antonio Gramsci wird uns mit mehreren Facetten seines Lebens während des gesamten Seminars begleiten. Während des Seminars wird öfter aktuelle politische, sozialpsychologische und ökonomische Themen aufgegriffen und mit den Thesen dieser Theorie verglichen.

Seminar 2

Frigga Haug
„Selbstveränderung und Veränderung der Umstände fallen zusammen“

Das Seminar liest und diskutiert die Thesen 3und 6 der Feuerbachthesen
von Marx. Im Anschluss studieren wir gemeinsam die Lektüre, die Gramsci
mit diesen Thesen vornimmt. Ziel ist es, die Vorschläge, die Marx und
Gramsci machen in aktuelle linke Politik zu übersetzen. (Als ein
Beispiel könnte die Diskussion um die Vier-in-Einem-Perspektive
herangezogen werden.)

Anhang:  Karl Marx „Thesen über Feuerbach“ (Marx-Engels Werke, Band 3, Seite 5ff. Dietz Verlag Berlin, 1969)

3. These
Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.

Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.

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6. These
Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen;
2. Das Wesen kann daher nur als „Gattung“, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.

 

Seminar 3

 Bernd Röttger
Transformation(en) der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. – Gesellschaftliche Übergänge mit Gramsci denken

Ökonomische Krisen der kapitalistischen Produktionsweise gelten der Linken immer als deren Bestandsgefährdung. Das war nicht nur haarscharf an Marx vorbeigedacht, sondern allem auch an Gramsci, der als erster marxistischer Theoretiker von einem Krisen-Revolutions-Dualismus Abschied nahm. Und dies angesichts eines neuen Revolutionsoptimismus der III. Internationale in der Krise der 1930er Jahre. In seinen Gefängnisheften behauptete er schlicht, dass »unmittelbare Krisen« gar nichts bewirken würden, wohl aber das Terrain sortierten, auf Fragen der »ganzen weiteren Entwicklung des staatlichen Lebens« zu »stellen und zu lösen« seien. Nur wie funktioniert das genau?
Das Seminar befasst sich mit drei Themen: (1.) Gramscis Interpretation der von Marx im Kapital enthüllten »Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise«, auf deren Grundlage sich die Menschheit – so Marx – überhaupt nur »Aufgaben« stellt, »die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind«. Gramsci formuliert diese Fragen in den Begriffen des »bestimmten Markts« und der »Tendenzgesetze«. (2.) Dem Übergang zur fordistischen Entwicklungsweise des Kapitalismus – damals neuer Reproduktionsstrukturen des Kapitalverhältnisses im Weltmaßstab – die Gramsci in Studien zum »Amerikanismus« und möglicher/notwendiger Formen einer »europäischen Reaktion« analysierte. (3.) Seiner Interpretation ökonomischer Krisen als Kräften der Transformation und der Restauration, die er auf der Grundlage veränderte historischer Reproduktionsstrukturen des Kapitalismus und – durch den Krisenprozess – veränderter Kräfteverhältnisse analysierte Dazu werden – kurze – Textpassagen aus seinen Gefängnisheften gelesen.
Vor allen aber soll die Aktualität der Krisenanalyse Gramscis verdeutlicht werden: Ohne eine an die Analyse von Verschiebungen in den kapitalistischen Reproduktionsstrukturen, den durch Machtverhältnisse konstituieren Handlungskorridoren konkurrierender Akteure/Blöcke und ohne an eine daran entwickelte Formulierung »strategischer« Alternativen orientierte Krisenanalyse kann man auch weiterhin »folgenlos« (Peter Weiss) vermeintliche über »tiefe Krisen des Kapitalismus« und damit verbundener »Notwendigkeiten Transformation« diskutieren.

 

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