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Der Kapitalismus an den Kipppunkten von Natur und Gesellschaft – Perspektiven für einen nachhaltigen Sozialismus

Die Menschheit ist zu einem geologischen Faktor geworden. Der Begriff Anthropozän als Benennung der gegenwärtigen geochronologischen Epoche macht das Ausmaß der menschlichen Eingriffe in die Naturprozesse deutlich und zeigt, dass Erdgeschichte und Menschheitsgeschichte nicht mehr voneinander zu trennen sind. Der Anfang dieser Epoche soll auf das Jahr 1950 datiert werden, den Beginn des Atomzeitalters und der „großen Beschleunigung“ von wirtschaftlicher Aktivität und Ressourcenverbrauch. [1]

In seiner Allgemeinheit verschleiert der Begriff jedoch, dass der industriell-fossile Kapitalismus die gesellschaftsstrukturelle Voraussetzung für die große Beschleunigung war.[2] Die Eingriffe in die Erdökologie gehen zum überwältigenden Anteil auf die kapitalistischen Zentren Europa und Nordamerika zurück. Die ökologischen Folgen sind zugleich Ausdruck eines ungleichen ökologischen Tausches zwischen den kapitalistischen Zentren und dem globalen Süden. Sie gehen einher mit einer Verschärfung der globalen gesellschaftlichen Ungleichheit.[3] Eine treffendere Benennung dieses Zeitalters ist daher der 2016 von Jason Moore vorgeschlagene Ausdruck Kapitalozän.

Immer deutlicher stellt sich heraus, dass die international vereinbarten Ziele zur Eindämmung der existenzbedrohenden Klimaerwärmung mit einem dramatischen Verlust der Biodiversität und drastischen Folgen für die menschliche Existenz verfehlt werden. Die Folgen für die Natur und die Gesellschaften sind überall spürbar. Dürren und Überflutungen auch in Europa, Migration aus dem globalen Süden, weil die Folgen der Klimaerwärmung dort noch drastischer zu spüren sind.

In den westlichen Gesellschaften nimmt die sozioökonomische, aber auch die politische Polarisierung zu. Dort wo die extreme Rechte politische Macht erhält, greift sie die Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit an. Das herrschende politische System ist offensichtlich nicht in der Lage, die als notwendig erkannten Maßnahmen umzusetzen, um den selbst gemachten Bedrohungen von Natur und Gesellschaft wirksam zu begegnen.

Diese Unfähigkeit ist im Kapitalismus selbst angelegt. Es besteht hier ein systemischer Zwang zu immer neuen Landnahmen (Klaus Dörre), also dazu, mehr und mehr Sphären in die kapitalistische Verwertung zu vereinnahmen. Mit der Zuspitzung „kannibalischer Kapitalismus“ bringt Nancy Fraser zum Ausdruck, dass der Kapitalismus zu seiner Erhaltung Anderes ausbeutet und dieses hierdurch seiner Existenzgrundlage beraubt. Paradoxerweise ist dieses Andere aber das Substrat des Kapitalismus selbst, so dass sich das kapitalistische System wie die Schlange Ouroboros in den eigenen Schwanz beißt.

Der Kapitalismus ist jedoch nicht allein eine Wirtschaftsform, sondern „eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als solche bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Inverstoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt“.[4] Eine Bewältigung der planetaren Probleme innerhalb des herrschenden Systems ist nicht zu erwarten. „Ohne einen regime change bei der Energie- und Rohstoffnutzung … kann die ökologische Krise nicht abgeschwächt werden und wird daher in eine planetare Katastrophe münden. Mit dieser werden aber zugleich die modernen kapitalistischen Industriegesellschaften an ihre ökonomischen, sozialen und politischen Kipppunkte getrieben. Die Befolgung des ökologisch, aber ebenso auch sozial Notwendigen würde zweifellos in eine veritable Krise des Kapitalismus münden.“[5], so Birgit Mahnkopf.

Die Frage nach Alternativen drängt wie kaum jemals zuvor. Aber ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert ist kein leichtes Unterfangen. Es genügt nicht mehr, wie Nancy Fraser sagt, „nur“ die Klassenherrschaft zu überwinden. Vielmehr muss er die vielfältigen Krisentendenzen des Kapitalismus „entinstitutionalisieren“, im Bereich der Ökonomie, der Ökologie, der sozialen Reproduktion und in der Politik. Ein zentraler Punkt ist ihr dabei die wesentliche Erweiterung des Geltungsbereiches der Demokratie.[6]

Aber auch wenn die Dringlichkeit eines Systemwechsels erkannt ist: Das, was notwendig ist, bedarf der Konkretisierung. Klaus Dörre: „Die Auffassung, das bloße ‚Aufzeigen des Falschen sei bereits Index des Richtigen‘, ist nicht mehr zu halten. Heutzutage gehören die Karten auf den Tisch. Zumindest die Umrisse einer nachhaltig sozialistischen Gesellschaft müssen so klar wie möglich gezeichnet werden, damit alle wissen, worauf sie sich einlassen, wenn vom Sozialismus die Rede ist. Ein positiver Gegenentwurf zur kapitalistischen Realität ist auch deshalb nötig, weil damit der Vereinnahmung gesellschaftskritischer Interventionen durch die radikale Rechte vorgebeugt werden kann.“[7]

Und schließlich: Wie ist ein solcher regime change zu gestalten, und (wie) ist er in der gegenwärtigen Situation des globalen Kapitalismus mit den sich zuspitzenden Kämpfen um strategische Vorherrschaft zu erreichen?

Die 16. Braunschweiger Gramsci-Tage haben sich vorgenommen zu analysieren, wo sich der Kapitalismus in seiner Dauerkrise (Ingar Solty) befindet, und Perspektiven und deren Umsetzungschancen für eine sozialistische Alternative zu diskutieren. Ist ein nachhaltiger Sozialismus eine reale Utopie oder sind solche Entwürfe eine „Flaschenpost“ für bessere Zeiten, die vielleicht nicht mehr kommen?

[1] Der Begriff Anthropozän wurde 2000 durch Paul Crutzen und Eugene F. Stoermer in die Fachdiskussion eingebracht. Die Anthropocene Working Group der Internationalen Kommission für Stratigraphie machte 2023 den Vorschlag, den Beginn dieser Epoche auf das Jahr 1950 zu datieren. Hierüber wird voraussichtlich 2024 entschieden. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Anthropozän

[2] Altvater, Elmar: Kapitalozän. Der Kapitalismus schreibt Erdgeschichte. In: Luxemburg 2/2017

[3] Bonneuil, Christophe: Die Erde im Kapitalozän. LMd vom 12.11.2015

[4] Fraser, Nancy: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Berlin 2023, S. 12

[5] Mahnkopf, Birgit: Rolle rückwärts. Der Green Deal im Kapitalozän. In: Luxemburg 3/2022, S. 19

[6] Fraser, Nancy, a.a.O., S. 240

[7] Dörre, Klaus: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin 2021, S. 117