- Braunschweiger Gramsci-Tage –
Die kurzen Sommer der Gegenmacht. Historische Alternativen zum Kapitalismus und warum sie so schwer durchzusetzen sind [1]
26./27. Oktober 2018 im Braunschweiger Gewerkschaftshaus
Dr. Bernd Röttger:
Gegenbewegung! Gegenmacht? Gegenhegemonie?! – Plakative Begriffe von schillernder Unschärfe (Einführung)
Gegenbewegungen seien Momente der Dynamik kapitalistischer Widerspruchsentwicklung, stellt Dr. Bernd Röttger einleitend heraus. In der Geschichte der Arbeiterbewegung habe es nicht an Bewegung, sondern an Macht gemangelt. Das Kapital habe stets seine Fähigkeit gezeigt, emanzipatorische Gegenkräfte zu „verdauen“. Mit Lelio Basso konstatiert Röttger, es sei bisher nicht gelungen, diesem „wandlungsfähigen Organismus“ eine wirksame „antagonistische Logik“ entgegenzusetzen. Als Gegenwartsanalyse beschreibt er mit Gramsci ein „Interregnum“, in dem der herrschende Block nicht mehr in der Lage ist, die Krise zu lösen, aber zu verhindern, dass andere dies tun. Auf diesem Terrain organisierten sich die antagonistischen Kräfte. Ähnlich wie in der Vorphase des Faschismus drohe eine passive Revolution von rechts. Gefragt seien Praxen, die sich nicht in „Integrationslogik“ verwandeln ließen.
Prof. Dr. Klaus Dörre:
Gegenbewegung und Gegenmacht. Machtressourcen und Widerstandsformen in Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus (Vortrag mit Diskussion)
Die neoliberale Globalisierung als Wachstumsprojekt sei repulsiv geworden und schlage mit ihren Wirkungen auf die verursachenden Zentren zurück, so Prof. Dr. Klaus Dörre. Die klassenspezifischen Ungleichheiten hätten weltweit ein Ausmaß angenommen, das eigentlich auf eine „vorrevolutionäre“ Situation schließen lasse; real hätten wir es aber mit „demobilisierten Klassengesellschaften“ zu tun. Nach der neoliberalen Globalisierung finde eine „Zeitenwende“ statt mit einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation, die wir nicht verhindern aber in der Richtung beeinflussen könnten. Die „autoritäre Revolte“ des völkischen Populismus beantworte die Herausforderung mit einer ethnopluralistischen Ideologie und Sozialpopulismus. Angelehnt an das Jenaer Modell der Quellen gewerkschaftlicher Macht – struktureller, organisatorischer, institutioneller und kommunikativer und reproduktiver Macht – formulierte Dörre Anforderungen an eine progressive Gewerkschaftspolitik, die sich kritisch und unidealistisch mit der Entwicklung der Digitalisierung auseinandersetzt und sich an Lebensfragen (Arbeitszeit) orientiert. Politische Bildung, Besetzung der Sachthemen und antirassistische Mobilisierung seien gefragt.
Ingar Solty/Dr. Bernd Röttger:
„Cäsaristische Sehnsüchte und linkes Unbehagen.“ Bedingungen, Formen und Widersprüche gesellschaftlicher Gegenmacht zwischen weltwirtschaftlichen Restriktionen und, neoliberalem Kosmopolitismus und populistischem Nationalismus (Streitgespräch mit Publikumsdiskussion)
Ingar Solty machte im Gespräch mit Bernd Röttger drei politisch-ökonomische Blöcke in den postglobalisierten kapitalistischen Zentren aus: den neoliberal-kosmopolitischen, den autoritär-nationalistischen und den sozialstaatlich orientierten. Offen sei, ob die Ablösung durch den autoritären Kapitalismus schon die „Lösung“ oder nur die Verschiebung der Krise sei. Mit Dörre konstatierte Solty eine „demobilisierte Klassengesellschaft“. Das Bedürfnis nach politischen Lösungen sei groß, allerdings fehle eine erlebte Handlungsmacht. Hieraus speise sich eine „cäsaristische Sehnsucht“ nach politischer Führung, die auch die Linke nicht ignorieren solle. Die aktuelle Phase eröffne einen Experimentierraum, der genutzt werden sollte. Seine Empfehlung an die Linke ist, mit der Situation dialektisch umzugehen und sie nicht in eine Spaltung münden zu lassen.
Orhan Sat:
Einführung in die Theorie Antonio Gramscis (Workshop)
Dieser Workshop gehört zum Standardprogramm der Gramsci-Tage. Orhan Sat führte in die Grundlagen des Denkens von Antonio Gramsci ein: Politik, Ideologie und Kultur sind für Gramsci nicht von der Ökonomie abhängige Variablen, sondern eigenständig als wirksame Sphären das „Terrain, auf dem die Menschen sich bewegen, Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben, kämpfen usw.“. Leitthema ist die Frage nach der Hegemonie, einer widersprüchlichen Einheit aus Herrschaft und Zwang. Die tatsächliche Hegemonie einer gesellschaftlichen Gruppierung setzt voraus, dass sie ihre Ideen, Werte und Normen als führend für die Mehrheit der Gesellschaft durchsetzen kann. Das Feld, auf dem um Hegemonie gerungen wird, ist die Zivilgesellschaft. Staat und Zivilgesellschaft greifen als integraler Staat ineinander. Während in der Zivilgesellschaft Hegemonie hergestellt wird, wird durch den Staat die formelle Herrschaft ausgeübt.
Die Philosophie der Praxis „… ist der Ausdruck [der] subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen, und die (unmöglichen) Betrügereien der Oberklasse und erst recht ihrer selbst zu vermeiden.“ In der Diskussion wurde die politische Theorie Gramscis kritisch auf aktuelle Themenstellungen bezogen.
Norbert Kueß/Jürgen Reuter:
Die Gewaltfreie Aktion als Gegenmacht (Workshop)
„Die gewaltfreie (direkte) Aktion ist eine traditionsreiche Methode der Konfliktbearbeitung. Zu ihr greifen Kontrahenten in Situationen, in denen es fast aussichtslos scheint, durch demokratische Verfahren einen Konsens über Gerechtigkeit und die dafür erforderlichen Wandlungen herzustellen. Die gewaltfreie Aktion hat das Ziel, einen Konflikt so zu dramatisieren, dass sein Vorhandensein und die Unzulänglichkeit der herrschenden Konfliktregelungsmechanismen nicht länger ignoriert werden können. Das Ziel der gewaltfreien Aktion ist es, in Diktaturen oder Formaldemokratien die psychischen und sozialen Bedingungen zu schaffen, unter denen erneut oder erstmals über Verhandlungen und demokratische Abstimmungen die Konflikte dauerhaft oder vorläufig geregelt werden können.“ (Theodor Ebert) In dem Lektüreworkshop wurden Texte von Gene Sharp (Von der Diktatur zur Demokratie), Thomas Seibert (Dissens statt Konsens – Demokratie als konstituierender Prozess) und Julia Böhnke/Jan Duschek (Machtfrage, nicht Rechtsfrage – Ziviler Ungehorsam als Teil der gewerkschaftlichen Geschichte und Gegenwart) gelesen. Diskutiert wurde, inwieweit die gewaltfreie Aktion in der gegenwärtigen Situation als Methode der politischen Auseinandersetzung taugt.
Richard Detje:
„Rechtspopulismus und Gewerkschaften – Eine arbeitsweltliche Spurensuche“ (Workshop)
Bei der „Klimaveränderung“ in den Betrieben gehe es um die Behauptung des sozialen Status, analysiert Richard Detje (Studie Rechtspopulismus und Gewerkschaften, Hamburg 2018, VSA) in seinem Workshop. Die Betroffenen seien mit vier Dimensionen von Verlustängsten konfrontiert: soziale Sicherheit, Kontrolle der eigenen Erwerbsbiografie, Anerkennung sowie perspektivische Aufstiegschancen. Diese Unsicherheiten gingen als „diffuse Angst“ (Gramsci) mit dem Wunsch nach Zu(sammen)gehörigkeit in einem neuen Kollektivzusammenhang einher. Eine diffuse Wut habe mit der „Flüchtlingsfrage“ als katalysierendem Element einen Empörungsadressaten (Geflüchtete) und einen Sprecheradressaten (PEGiDA und AfD) erhalten. Die Verschiebung der Konfliktachse von vertikal (oben vs. unten) zu horizontal (wir vs. die anderen) beinhalte die Wahrnehmung von Gewerkschaften als Teil des Establishments. Die Linke müsse unbedingt an die Verlustängste andocken und sich selbst zum Sprachrohr dieser Erfahrungen machen.
Richard Detje/Andreas Klepp:
Gegenmacht und Gegenbewegungen. Empirische Befunde und praktische Konsequenzen (Publikumsgespräch)
Im abschließenden Gespräch befand auch Richard Detje, dass es auf die verschränkte Bearbeitung verschiedener Problemfelder ankomme: Aufnehmen der Ängste und Verlusterfahrungen, Verbindung der gewerkschaftlichen und politischen Linken und Verschränken von Arbeits- und Lebenswelt. Das Verbindende in unterschiedlichen Themenfeldern sei herauszuarbeiten und über Kapitalismus selbst zu diskutieren. Für das Verhalten gegenüber der AfD empfahl Detje, selbst aktiv Themensetting zu betreiben und deren Positionen dem „Realitätstest“ auszusetzen. Die Gewerkschaften bräuchten offensive Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen.
Hans-Werner Fechtel und Arndt Gutzeit:
„Sich fügen heißt lügen“ – Texte, Gedichte und Lieder von Erich Mühsam (Kultur)
Lieder und Texte von und über Erich Mühsam, vorgetragen von Hans-Werner Fechtel und Arndt Gutzeit, rundeten das Programm ab.
[1] In Anlehnung an Hans Magnus Enzensbergers Roman Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod