17. Braunschweiger Gramsci-Tage 2024


Mittwoch, 23. Oktober 2024, 19h
Universum Filmtheater, Neue Straße 8, 38100 Braunschweig

Freitag, 25. Oktober 2024, 16h – ca. 22h
Samstag, 26. Oktober 2024, 9.30h – ca. 18.30h
Haus der Kulturen, Am Nordbahnhof 1a, 38106 Braunschweig

Zum Thema


„Revolutionäre Realpolitik heute –
aktuelle Herrschaftsstrategien des Kapitals und unsere solidarische Gegenwehr“

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass die bürgerliche Politik vom Standpunkte der materiellen Tageserfolge real, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.

Rosa Luxemburg[1]

Der von Rosa Luxemburg im Revisionismusstreit der deutschen Sozialdemokratie geprägte Begriff revolutionäre Realpolitik sollte den in ihren Augen falschen Widerspruch zwischen Reform und Revolution überwinden. Sie suchte damit nach einer „organischen Verbindung von konkretem Einsatz für die Interessen der Arbeiter und unterdrückter Regionen der Welt und revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft“. (Michael Brie)[2]

Mehr als ein Jahrhundert später hat der Kapitalismus trotz aller Krisentendenzen die Oberhand. Wir haben es heute mit einem „postliberalen Kapitalismus“ zu tun (Ingar Solty), der nicht davor zurückschreckt, die neue globale Konfrontation gegen Russland und China mit Aufrüstung und militärischem Imponiergehabe zu befördern. Gleichzeitig wird die „Brandmauer“ gegenüber rechten Parteien brüchig und die „bürgerliche Mitte“ schwenkt zunehmend auf vordem radikale Positionen der Rechten ein. „Die AfD braucht keine Nazis, der liberale Deutsche hilft schon genug.“ (Ingar Solty)[3]

Zu den Beförderern dieser Politik gehören die sog. Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft wie der Bundesverband der deutschen Industrie e.V. (BDI). Der gut vernetzte Verband fordert zur Stärkung des Industriestandortes Deutschland nach wie vor Liberalisierung und Deregulierung, Kommerzialisierung und Privatisierung und eine entsprechende Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Letztere bietet ein überdurchschnittliches Wachstumspotential, weshalb sich der BDI – und das geht zusammen mit den Weltmarktinteressen seiner Mitglieder – für einen robusten Politikstil engagiert. „Neoliberale Politik und konkretes ‚mehr Staat‘ gehen widersprüchlich zusammen und Globalisierungspraktiken werden nun stark selektiv, Kontrahenten ausgrenzend und bekämpfend betrieben.“ (Judith Dellheim)[4]

Dabei geht es auch darum, die Gewerkschaften in Bündnisse einzubinden und berechenbar zu halten. Diese geraten so in das Spannungsfeld von Beschäftigungssicherung und Mitgestaltung einer sozial-ökologischen Transformation. Aber solidarische Gegenwehr der Arbeitenden ist eng mit der Frage von Krieg und Frieden verbunden, wie Nicole Mayer-Ahuja am 1. Mai 2023 in Braunschweig festgestellt hat.[5]

Die 16. Braunschweiger Gramsci-Tage hatten die konkrete Utopie eines nachhaltigen Sozialismus zum Thema. Aber wie kann – angesichts der wachsenden Herausforderungen und unter den derzeitigen Kräfteverhältnissen – eine sozial-ökologische Transformation in die Tat gesetzt werden? Mit anderen Worten: Wie muss revolutionäre Realpolitik heute aussehen? Wo liegen die Ansatzpunkte einer „praktischen Politik im Konkreten mit transformatorischen Zielen und Mitteln“ (Michael Brie)[6]?

Wir fragen dazu auch nach den subjektiven Bedingungen von Autoritarismus aus der Perspektive kritischer Sozialpsychologie und suchen schließlich nach Wegen für eine solidarische Politik der Arbeit.

Dazu sollen zwei aktuelle Projekte, die sich in diesem Horizont bewegen, nach ihrem transformatorischen Potential befragt werden.

  • Die Salzgitter Flachstahl GmbH betreibt mit dem regional bedeutsamen SALCOS-Projekt bereits aktiv die Umstellung auf eine nahezu CO2-freie Stahlproduktion. Die öffentliche Steuerung und Beteiligung spielen dabei genauso eine Rolle wie die betriebliche Mitbestimmung.
  • Vor drei Jahren hat die Belegschaft des ehemaligen Autozulieferers GKN bei Florenz mit der Gründung der Genossenschaft „Colletivo Di Fabbrica – Lavoratori Gkn Firenze“ reagiert. Die Arbeiter:innen kämpfen für die Kontrolle über die Produktion und eine ökologische Produktpalette.

Die 17. Braunschweiger Gramsci-Tage bieten Vorträge, Diskussionen und Workshops u.a. mit Ingar Solty, Dr. Fiona Kalkstein, Dr. Judith Dellheim, Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, Lena Fuhrmann und Matthias Wilhelm sowie Lars Hirsekorn und Tobi Rosswog. Das KünsterInnenkollektiv M.Pört präsentiert das Programm „Empört – Der Frieden muss den Krieg besiegen“.

 

[1] Rosa Luxemburg: Marx. In: Vorwärts (Berlin) Nr. 62 vom 14. März 1903;
zitiert nach: Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 369; siehe https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/369 https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/373

[2] Michael Brie/ Mario Candeias: Revolutionäre Realpolitik. In: LUXEMBURG: ABC der Transformation; siehe https://zeitschrift-luxemburg.de/abc/revolutionaere-realpolitik/

[3] Ingar Solty: „Innere Zeitenwende“: Die AfD braucht keine Nazis, der liberale Deutsche hilft schon genug. In: Berliner Zeitung vom 19.5.2024; siehe https://archive.is/C0z4P

[4] Judith Dellheim: Der BDI als Katalysator der multiplen Krise und der „Zeitenwende“. In: Z Nr. 136, S. 51-60

[5]  Nicole Mayer-Ahuja: Ungebrochen solidarisch – Rede zum 1. Mai 2023, DGB Braunschweig; siehe https://erstermaibraunschweig.de/wp-content/uploads/2023/05/Ungebrochen-solidarisch-2023.pdf

[6] Siehe FN 2

Programm


Mittwoch, 23.10.2024

19.00h | Dokumentarfilm von Joana Georgi
„Niemals allein, immer zusammen!“

Freitag, 25.10.2024

15.30h | Einlass

16.00h | Einführung und Grußworte

17.00h | Keynote mit Diskussion
Ingar Solty: Der postliberale Kapitalismus und seine Alternativen

18.45h | Vortrag mit Diskussion
Dr. Fiona Kalkstein: Autoritäre Ideologie und Unbehagen im Spätkapitalismus

20.15h | Kulturbeitrag
KünstlerInnenkollektiv M.Pört: „Empört – Der Frieden muss den Krieg besiegen“

Samstag, 26.10.2024

09.30h | Begrüßung

10.00h | Vortrag mit Diskussion
Dr. Judith Dellheim: Die gemachte „Zeitenwende“ und der Anteil des BDI an den gegenwärtigen Herrschaftsstrategien – Herausforderungen für sozialistische Opposition

12.00h | Vortrag mit Diskussion
Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja: Mit „revolutionärer Realpolitik“ zur sozial-ökologischen Transformation? Ansatzpunkte für eine solidarische Politik der Arbeit

13.30h | Workshops

  1. Orhan Sat: Einführung in das Denken von Antonio Gramsci
  2. Andreas Klepp und Dr. Francesco Laruffa: Gramsci und Bildung – Kulturelle Hegemonie verstehen, kritisieren und erlangen
  3. Norbert Kueß und Jürgen Reuter: Lektüre-Workshop mit Texten zur Forschung über rechte und autoritäre Einstellungen
  4. Timo Reuter und Derya Rust: Zeitenwende und gewerkschaftliche Friedenspolitik

anschließend: World-Café mit den Workshop-Ergebnissen

16.30h | Diskussionsrunde
Beispiele revolutionärer Realpolitik? SALCOS und GKN

mit Lena Fuhrmann, Betriebsrätin Salzgitter Flachstahl GmbH, Matthias Wilhelm, IG Metall Salzgitter-Peine, Tobi Rosswog, Aktivist, (angefragt) und Lars Hirsekorn, Betriebsrat Volkswagen Braunschweig, sowie Dr. Judith Dellheim und Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja
Moderation: Jürgen Reuter

18.00h | Schlussworte

Zum ausführlichen Programm geht es hier.

Anmeldung und Tagungsbeitrag


Der Tagungsbeitrag beträgt 20 €, ermäßigt 5 €.

Der ermäßigte Beitrag gilt für Studierende, Empfänger sozialer Transferleistungen und andere einkommensschwache Teilnehmer:innen. Gern können finanziell Bessergestellte ihren Beitrag um einen Solibetrag erhöhen.

Der Tagungsbeitrag enthält die Kosten für Tagungsgetränke und den Imbiss am Freitagabend (Restaurant Troja).

Der Kino-Eintritt für die Filmvorführung im Universum beträgt 10 €. Für Schüler:innen, Student:innen, Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger:innen wird eine Ermäßigung von 1 € gewährt.

Am Samstag besteht die Möglichkeit, an einem Mittagessen teilzunehmen. Der Kostenbeitrag für das Mittagessen (Restaurant Troja) beträgt 10 €.

Es besteht die Möglichkeit, während der Veranstaltung eine Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen. Bei Bedarf bitte bei der Anmeldung angeben.

Der Veranstaltungsort ist im Untergeschoss barrierefrei zu erreichen. Ein Aufzug zu den Seminarräumen im Obergeschoss steht leider nicht zur Verfügung.

Zur Anmeldung geht es hier.

Kooperationspartner


Die 17. Braunschweiger Gramsci-Tage sind eine Kooperation der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen e.V., des Deutschen Gewerkschaftsbundes Region SüdOstNiedersachsen, des Bezirksverbands Braunschweig der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Einzelpersonen sowie des Universum Filmtheaters.

 

Gramsci Tage 2014, Exposés

Freitag 21. November 2014

Keynote

Dr. Hans-Jürgen Urban
„Die Hegemonie entspringt in der Fabrik…“
Arbeits- und Lebenspolitik im Gegenwartskapitalismus

Die Hegemonie entspringt in der Fabrik, behauptet Antonio Gramsci in seiner Analyse von Fordismus und Amerikanismus, und sie prägt die gesamte Lebensführung der Subalternen. Ist dieser Blick auf die Wirkungsmacht der Organisation der kapitalistischen Arbeit und damit den Ursprung kapitalistischer Hegemonie auch ein geeigneter Zugang zur Analyse des Gegenwartskapitalismus? Wenn das gegenwärtig dominierende Shareholder Value-Regime die gesamte Gesellschaft und die Lebensweise abhängig Arbeitender im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus prägt, wird gegentendenzielle Arbeitspolitik, ob sie es will oder nicht, zur Gesellschafts- und Lebenspolitik. Was ist davon zu halten und welche Konsequenzen hätte dies? Für die Gewerkschaften und die Linke insgesamt? Mit Fragen wie diesen will sich der Vortrag beschäftigen

Rezitation und Jazz

Angelika Uminski; Dallmann, Haas & Lamby
„Was sich nicht organisch fügen will, soll wenigstens anschaulich klaffen.“

Die rezitierten Reflektionen über den Zusammenhang von Arbeit, Herrschaft und Emanzipation aus politökonomischer Theorie, Literatur und Lyrik werden historisch-kritisch kommentiert. Sie bieten einen Streifzug durch die Geschichte kapitalistisch form- und fremdbestimmter Arbeit, den Widerstand der Arbeitenden und das Denken über die Befreiung in unterschiedlichen Phasen der kapitalistischen Produktionsweise. Gerahmt werden die Rezitationen durch begleitende u. kommentierende Jazz-Improvisationen

Samstag 22. November 2014

Seminare

Orhan Sat
Hegemonie als Kampf um den Alltagsverstand

Einführung in die zentralen Fragestellungen und Begriffe der Theorie Antonio Gramscis. Im Mittelpunkt stehen seine Konzepte der Hegemonie und des Alltagsverstandes. Beide bilden unverzichtbare Grundlagen für das Verständnis sowohl von herrschender politischer Praxis als auch für die Entwicklung historischer Alternativen.

Dr. Bernd Röttger
Braverman, die Arbeitsprozess-Debatte und Perspektiven kritischer Arbeitsforschung heute

Diskutiert werden die zentralen Thesen des Werkes von Braverman zur Entwicklung der Arbeit, zur Funktion des Managements, zur Organisation von Zustimmung der Beschäftigten zur betrieblichen Rationalisierung und zu den Perspektiven der beruflichen Fertigkeiten. Die Thesen werden vor ihren empirischen Hintergründen und in ihren theoretischen Bezügen erörtert. Schließlich soll ihr Potential für Analyse und Kritik des Arbeitsprozesses im Gegenwartskapitalismus ausgelotet werden.

Vortrag

Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling
Von Braverman zu Gramsci? Arbeit und Politik im transnationalen Kapitalismus – Konsequenzen für eine praktische Kapitalismuskritik

Der Vortrag thematisiert ausgehend von Bravermans Thesen und der daran anschließenden Arbeitsprozess-Debatte  die Frage, wie die Perspektive der Befreiung in der Arbeit unter den Bedingungen einer transnationalen Produktionsweise neu durchbuchstabiert werden muss. Angereichert durch regulationstheoretische und gramscianische Fragestellungen  werden Elemente einer praktischen Kapitalismuskritik heute entwickelt.

Vortrag

Udo Achten
Mehr Zeit für uns!
Nicht um zu arbeiten leben wir, wir leben um zu arbeiten.
Thesen zum Recht auf Arbeit und zum Recht auf Faulheit

Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist auch ein Kulturkampf. Wenn Muße nicht nur das Privileg einen Minderheit sein soll, müssen sowohl Arbeitszeit und deren Lage auf den Prüfstand.

Round Table Diskussion

Uwe Fritsch, Dr. Wolfgang Neef, Ulrike Obermayr, Hans-Georg Zienczyk
Kompetenz und Bildung – für was und für wen eigentlich?
Qualifikation zwischen Kapitalverwertung und Selbstbefähigung

Gehörte die De-Qualifizierung der lebendigen Arbeit (Braverman) noch zur Funktionsweise des fordistischen Kapitalismus, wurden (fachliche u. soziale) »Kompetenzen«, die Bereitschaft zu »lebenslangem Lernen« u. »qualifiziertes Wissen« inzwischen quasi zu Einstellungsvoraussetzungen des modernen Produktionsprozesses im Gegenwartskapitalismus. Die Qualifizierung der Beschäftigten ist vom Kapital gewollt. Peter Weiss notierte in seiner Ästhetik des Widerstands, dass »ökonomische Begünstigung« von der »Überlegenheit des Wissens« nicht zu trennen ist – und folgert: »Ehe wir uns Einblick in die Verhältnisse verschafft und grundlegende Kenntnisse gewonnen hatten, konnten die Privilegien der Herrschenden nicht aufgehoben werden. Immer wieder wurden wir zurückgeworfen, weil unser Vermögen des Denkens, des Kombinierens und Folgerns noch nicht genügend entwickelt war.« An späterer Stelle vermerkt, dass »die Befreiung […] uns nicht gegeben werden« kann; »wir müssen sie selbst erobern. Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen.« –
Wie ist die Qualifizierungsoffensive des Gegenwartskapitalismus einzuschätzen? Tritt den Beschäftigten ihre eigene Qualifikation als »fremde Macht« (Marx) gegenüber, die ihnen nur aufgezwungen ist? Oder wird sie als Ausweitung des eigenen Handlungskorridors wahrgenommen? Welchen Interessen dient sie? Und für was und wen kann sie eingesetzt werden? Unstrittig ist, dass Betriebsräte zunehmend qualifizierte Aufgaben in der betrieblichen Mitbestimmung wahrnehmen, die teilweise weit über verbriefte Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes hinausweisen. Auf dem Podium werden Praxen, Voraussetzungen, und Ziele der sog. Re-Qualifizierung der lebendigen Arbeit diskutiert