Zum Thema, 2017

Vor 150 Jahren – 1867 – erschien der erste Band von Karl MarxKapital. Es revolutionierte die Erkenntnisse über die Grundlagen, die Entwicklungsgesetze und die historischen Schranken der kapitalistischen Produktionsweise. Marx gab – so Rosa Luxemburg– mit seinem Werk »der Arbeiterklasse der ganzen Welt einen Kompass in die Hand, um sich im Strudel der Tagesereignisse zurechtzufinden, um die Kampftaktik jeder Stunde nach dem unverrückbaren Endziel zu richten«. Eine Anleitung zur revolutionären Umwälzung bietet es nicht. Marx verweigerte sich »Rezepten […] für die Garküche der Zukunft«. Er zeigte mit den von ihm enthüllten Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise aber, dass »neue höhere Produktionsverhältnisse […] nie [entstehen], bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind«. Sofern nicht »die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt« bereits entwickelt sind, bleiben »alle Sprengversuche Donquichoterie«. Obwohl die kapitalistische Produktion beständig danach strebt, die »ihr immanenten Schranken zu überwinden«, indem sie Mittel verwendet, »die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerem Maßstab entgegenstellen«, bleibt »die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion […] das Kapital selbst«.

Vor 100 Jahren – 1917 – traten die russischen Kommunisten den praktischen Beweis an, dass eine soziale Revolution auch ohne die im Schoße der alten Gesellschaft ausgebrüteten Bedingungen und den »mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen« (Marx) ein Ancien Régime hinwegfegen kann. War die russische Revolution eine soziale Revolution im marxschen Verständnis? Gramsci interpretierte sie als »Revolution gegen das Kapital von Karl Marx […], als Beweis, dass die Grundprinzipien des historischen Materialismus nicht so eisern sind, wie man hätte annehmen können und wie man annahm«. Zugleich warnte er davor, die russische Revolution zum Modell aller zukünftigen Revolutionen zu erheben.

Die 11. Braunschweiger Gramsci Tage nehmen das 150jährige Erscheinen von MarxKapital und den 100. Jahrestag der russischen Revolution zum Anlass, die komplexen Beziehungen von revolutionärer Theorie und Praxis unter sich dynamisch wandelnden Bedingungen unter die Lupe zu nehmen. Sie wollen kritische Reflektionen über die Kritik der Politischen Ökonomie und zur Bedeutung der russischen Revolution zusammenbringen. – Vor dem Hintergrund verschiedener Erneuerungen der marxschen Theorie, der Aktualität seiner Kritik der politischen Ökonomie angesichts kapitalistischer Krisentendenzen und der historischen Erfahrung des Endes der staatssozialistischen Gesellschaften werden Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen emanzipatorischer Theorie und Praxis diskutiert.


Als kategorischen Imperativ aller sozialen Revolutionen bezeichnet Marx »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Die klassenlose Gesellschaft jedoch, die der Umwälzung der bürgerlichen Herrschaftsordnung folgen soll, ist –  wie Bertolt Brecht in den krisenhaften 1930er Jahren bereits weiß – »das Einfache […] / Das schwer zu machen ist«. – Wenn die Revolution »selbst die Bühne der Geschehnisse« betritt (Luxemburg), sieht sie sich nicht nur mit der »konzentrierten gesellschaftlichen Macht« (Marx) der alten Ordnung konfrontiert, sondern auch mit von ihr ausgelösten Prozessen, die sie nicht mehr zu kontrollieren vermag …