Es gibt erst seit Marx und durch Marx eine sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.
Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass die bürgerliche Politik vom Standpunkte der materiellen Tageserfolge real, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.
Rosa Luxemburg, 1903[1]
Mit dem Begriff revolutionäre Realpolitik intervenierte Rosa Luxemburg in den Revisionismusstreit der deutschen Sozialdemokratie. Die SPD war Anfang des 20. Jhs. zwar zu einer bedeutsamen Kraft geworden, jedoch weit davon entfernt, die politische Mehrheit zu erringen. In dieser Situation ging es ihr darum, „dies grobkörnige Entweder–Oder“ zwischen „Maschinengewehr und Parlamentarismus“ zu überwinden. Reform und Revolution sah sie nicht als „verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts“, sondern als „verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.“[2] Sie suchte nach einer „organischen Verbindung von konkretem Einsatz für die Interessen der Arbeiter und unterdrückter Regionen der Welt und revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft“. (Michael Brie) [3]
Davon ausgehend, dass das kapitalistische System nicht in der Lage ist, die vielfältigen selbsterzeugten Krisentendenzen zu bewältigen, befassten sich die 16. Braunschweiger Gramsci-Tage mit der konkreten Utopie eines nachhaltigen Sozialismus. Aber wie kann – unter den derzeitigen Kräfteverhältnissen – diese Utopie in die Tat gesetzt werden? Mit anderen Worten: Wie muss revolutionäre Realpolitik heute aussehen?
Für Michael Brie und Mario Candeias fallen viele Projekte der vergangenen hundert Jahre unter dieses Attribut: Volksfrontbewegungen, transformatorische Regierungsprojekte, Aktionen von Arbeiterselbstverwaltung, alternative Produktions-, Austausch- und Lebensformen. Von revolutionärer Realpolitik als solche sollte aber erst dann gesprochen werden, „wenn bewusst und zielgerichtet Akteure daran arbeiten, dass solche Projekte zusammenwachsen zu einer umfassenderen Bewegung, die sich auf den Standpunkt der Benachteiligten, Bedrohten, Ausgegrenzten stellt … Eine solche Politik strebt danach, in der gegenwärtigen Gesellschaft Tendenzen zu stärken, die über das Kapitalistische hinausweisen. Sie sucht nach Bruchpunkten, um derartige Veränderungen unumkehrbar zu machen, hin zu einer weitergehenden Transformation der gesamten Gesellschaft.“[4]
Reformen innerhalb der herrschenden Ordnung haben von vornherein eine begrenzte Reichweite. Soziale Verbesserungen im kapitalistischen System sind bedroht, sobald, wie aktuell, die Profitrate fällt und/ oder sich die politischen Kräfteverhältnisse verschieben. Hingegen: „Revolutionäre Realpolitik ist praktische Politik im Konkreten mit transformatorischen Zielen und Mitteln.[5]“ Sie bewegt sich im Jetzt und weist dabei über die herrschende Ordnung hinaus.
[1] Rosa Luxemburg: Marx. In: Vorwärts (Berlin) Nr. 62 vom 14. März 1903;
zitiert nach: Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 373; siehe: https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/373
[2] Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?; Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 428; zitiert nach https://zeitschrift-luxemburg.de/abc/revolutionaere-realpolitik/
[3] https://zeitschrift-luxemburg.de/abc/revolutionaere-realpolitik/
[4] Ebd.
[5] Ebd.