Ingar Solty: Der globale Kapitalismus in der Dauerkrise

Vortrag und Diskussion

(Samstag, 7.10.2023, 10.00h – 10.30h)

Ingar Solty identifiziert sechs Dimensionen der Dauerkrise des globalen Kapitalismus:

  1. Krise des kapitalistischen Akkumulationsmodells, die spätestens 2007/2008 auch die kapitalistischen Zentren erreichte und andauert
  2. Krise der Geschlechterverhältnisse und der sozialen Reproduktion als Folge der neoliberalen Feminisierung der Arbeitsmärkte; verschärft durch die Unterfinanzierung der sozialen Daseinsvorsorge
  3. Krise des sozialen Zusammenhalts, ausgeprägt als Angstkrise mit tiefer sozialer Verunsicherung bis in die Mittelklasse hinein; ausgelöst durch den Umbau des keynesianischen Wohlfahrtsstaats in den neoliberalen „Workfare-State“
  4. auf diesen Krisenerscheinungen fußend eine Krise der bürgerlichen Demokratie und des liberalen Repräsentationsmodells mit einem Zerfall der Volksparteien,  gesellschaftlicher Polarisierung und Aufstieg des rechtsautoritären Nationalismus
  5. Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses, zu der die Überschreitung der ökologischen Grenzen des kapitalistischen Wachstums ebenso gehört wie die Klimakatastrophe mit all ihren Folgen
  6. Krise der nach 1945 maßgeblich von den USA geschaffenen Weltordnung, mit der die Frage, ob sich der relative Abstieg der bisherigen Hegemonialmacht USA und der Aufstieg Chinas zu einer neuen Weltmacht ohne Weltkrieg vollziehen werden

Jede Krisendimension evoziere aus ihrem Zusammenhang heraus Folgewirkungen in anderen Dimensionen, so dass die politischen Eliten ständig mit Ad-hoc-Feuerlöschen beschäftigt seien.

Historisch, so setzt er fort, könne die Situation vermtl. dereinst mit der großen Depression von 1873-1895 verglichen werden, die zu einer tiefgreifenden Systemveränderung geführt habe.

Zur Bewältigung der schon Anfang der 2000er Jahre beginnenden Krisenerscheinungen habe der Westen den Weg der Austerität, also der Abwälzung der Lasten auf die breiten Bevölkerungsschichten, und Beggar-thy-Neighbour-Policy gewählt. Die Chancen sowohl für einen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft wie auch für einen Umbau der Banken in öffentliche Dienstleistungsunternehmen seien damals vertan worden. China hingegen habe das Modell einer staatlich gelenkten Wirtschaft verfolgt, das sich nun als überlegen erweise. In sämtlichen Zukunftstechnologien habe China aufgeholt bzw. den Westen bereits überholt.

Der Westen versuche nun die Quadratur des Kreises, indem er einerseits Chinas Politik gezielter staatlicher Förderung nachahme, gleichzeitig aber die Austerität zulasten der Arbeiterklasse weiterführe. Erklärtes Ziel der amerikanischen Politik sei es, China mit allen Mitteln in untergeordneter Stellung zu halten. In dieser Konfrontation seien die USA allerdings auf eine Arbeitsteilung des Westens angewiesen. Anders als bei Deutschland, Japan und Südkorea, die nach dem 2. Weltkrieg eng an die Vereinigten Staaten gebunden wurden, hätten sie es hier mit einem aufgrund seiner Größe, seines technologischen Potentials und seiner Souveränität viel schwierigerem Gegner zu tun.

Der Ukrainekrieg sei ohne diesen Kontext nicht zu verstehen. Ingar Solty sieht ihn als Katalysator für eine neue Weltordnung. Die USA seien derzeit dessen einzige Profiteure. Neben der dauerhaften Schwächung Russlands verfolgten sie auch das Ziel, Europa und namentlich Deutschland wirtschaftlich abhängig zu machen. Somit schaffe der Ukrainekrieg die Bedingungen für die angestrebte Festigung eines asymmetrischen Transatlantizismus. Europa und Deutschland habe diese Konstellation in neue Abhängigkeiten geführt:

  1. energiepolitisch durch die Kappung der Versorgung mit billigen russischen Energieressourcen und die Bindung an weitaus teureres Flüssigerdgas (LNG) sowie Erdgas und Erdöl aus anderen US-verbündeten Autokratien wie Saudi-Arabien, Katar u.a.
  2. wirtschaftspolitisch durch die auf Drängen der USA forcierte Abkoppelung vom chinesischen Markt und Bindung an den US-Markt
  3. geopolitisch, insofern eine neue Blockkonfrontation mit China jene Player mit den größten Militärressourcen und der größten imperialen Reichweite aufwerte
  4. militär-technologie-industriepolitisch, insofern im Zuge der zugespitzten internationalen Rivalitäten und als Teil der NATO-Strategie ein neues Wettrüsten stattfinde, von dem in erster Linie die größten – in den USA beheimateten – Rüstungskonzerne profitierten

Damit werde auch deutlich, wie sehr die Entwicklungen in den einzelnen Bereichen miteinander verbunden seien. Eine politische Strategie der Linken müsse sich an den Zusammenhängen zwischen Außen- und Innenpolitik, Klima- und Friedenspolitik sowie Klima- und Chinapolitik orientieren und gegen die Tendenz der Partikularisierung der Politikfelder verteidigt werden.

Perspektivisch und mit Blick auf linke Strategien macht Ingar Solty folgende zentrale Herausforderungen aus:

  1. Verhinderung einer neuen Blockkonfrontation und der Abkoppelung von China, da hierin sowohl die Gefahr eines großen Krieges liege als auch alle Bemühungen um einen grünen Umbau der Wirtschaft konterkariert würden. Die von der EU und Deutschland vertretene China-Politik eines Derisking statt eines Decoupling, d.h. China als ökonomischen Partner und Konkurrenten, gleichzeitig aber als politischen Rivalen zu betrachten, sei wirklichkeitsfremd, da sich wirtschaftliche und politische Gegnerschaft nicht voneinander trennen ließen.
  2. Die Gefahr einer Deindustrialisierung in Europa sei real. Mit der Angewiesenheit privaten Kapitals auf staatliche Rettung ergebe sich seit 2000 historisch zum dritten Mal die Chance, die Eigentumsfrage zu stellen. So müsse die Einführung eines Industriestrompreises einhergehen mit Vergünstigungen auch für die arbeitenden Klassen. Weiterhin müsse die finanzielle Unterstützung des Kapitals mit einer Übertragung von Eigentumsrechten an die öffentliche Hand verbunden werden.

Literaturhinweis: 
Ingar Solty (2023): Die neue Blockkonfrontation. Hochtechnologie. (De-)Globalisierung. Geopolitik (ISW-Report Nr. 133/134)

Videoaufzeichnung des Vortrags (37:12 Min.) auf YouTube (Mr. Marxismo) unter https://www.youtube.com/watch?v=mjXB3mR9zVE (aktuell leider nicht verfügbar)